Konzentrationsschwäche

Rund eine Million Kinder ringen in Deutschland um ihre psychische Balance.

Von mancher Seelenpein ihrer Kinder haben viele Eltern offenbar keine Ahnung: Als Kölner Wissenschaftler 1757 Jugendliche nach psychischen Problemen fragten, gestand die Mehrzahl der Elf- bis 18-Jährigen ein, dass sie unter Ängsten, Depressionen oder Zwängen litten. Ihre Eltern hatten lediglich Schul- und Beziehungsprobleme, trotziges oder unkonzentriertes Verhalten bemerkt. Dabei übertrieben die Heranwachsenden ihre Probleme keineswegs, betont die Psychologin Julia Plück, die gemeinsam mit Kollegen die Studie leitete. „Die Kinder sagten schließlich Dinge über sich selbst, die niemand gerne zugibt.“

Mittlerweile zeigt ein Fünftel aller Kindergartenkinder zwischen drei und sechs Jahren Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen, Konzentrationsprobleme oder Ängstlichkeit. Zwar fehlen vergleichbare Statistiken von früher. Professor Christian Eggers weiß jedoch aus 21 Jahren Erfahrung als Kinder- und Jugendpsychiater an der Essener Uniklinik, dass sich die Situation verschärft hat. Sein Berufsverband schätzt die Zahl der taumelnden Kinderseelen auf inzwischen rund eine Million. Vor allem depressives und destruktives Verhalten nimmt zu, aber auch Drogenmissbrauch und Essstörungen. Seelisches Leid maskiert sich bei Jungen und Mädchen unterschiedlich: Während männliche Heranwachsende oft gewalttätig werden – von Fachleuten „acting out“ genannt –, ziehen sich Mädchen in ihr Schneckenhaus zurück. Viele hungern bis zum Umfallen, manche verletzen sich selbst, schlitzen sich etwa Arme und Beine auf.

 

„Die Kinder erfahren Leere und Langeweile“, sagt Christian Eggers, „dadurch sind sie seelisch verarmt.“ Wer den Schmerz nicht aushalte, bedrohe oftmals andere oder verweigere und schwänze die Schule – solange, bis jemand den Hilferuf höre. Eggers, der auch als Gutachter im Prozess gegen die jugendlichen Brandstifter von Solingen auftrat, scheut sich nicht vor simpel anmutenden Erklärungen. Den Kindern fehle die „gemüthafte Bindung in der Familie“. Wo früher vorgelesen, gespielt und gemeinsam gewandert wurde, regierten heute Fernsehschocker und Computerspiele. Jugendforscher wie der Bielefelder Klaus Hurrelmann beklagen, dass Kinder heute zu viel Stress, zu wenig Schlaf und zu wenig Bewegung haben. Laut Hurrelmann greift ein Drittel der Grundschüler – angeregt und unterstützt durch ihre Eltern – regelmäßig zu Schmerz-, Aufputsch- oder Beruhigungsmitteln.

 

Kein rein deutsches Problem: Die US-amerikanische Ärztezeitschrift JAMA veröffentlichte jüngst eine Studie, wonach sich die Zahl der Zwei- bis Vierjährigen, die Psychopharmaka schlucken, zwischen 1991 und 1995 verdreifacht habe. An der Spitze der Verschreibungen steht dabei das Aufputschmittel Ritalin, das Kindern hilft, die an Konzentrationsschwäche und Hyperaktivität leiden. Amerikanische Spezialisten rechnen damit, dass inzwischen jedes dritte bis siebte Kind unter sieben Jahren entsprechende Symptome aufweist. Das würde bedeuten, dass allein in den USA sechs bis neun Millionen kleine Zappelphilippe leben.

 

Allerdings sind psychische Erkrankungen bei jüngeren Kindern schwer zu diagnostizieren. Die Mehrzahl der deutschen Experten schätzt die Zahl hyperaktiver Schulkinder hier vorsichtiger auf maximal sieben Prozent – was freilich immer noch 630.000 Fällen entspräche. Was die Kinder so zappelig macht, ist unklar. Erklärungsversuche reichen von Hirnschäden und Gendefekten über falsche Ernährung und Bewegungsmangel bis zu Reizüberflutung. Möglicherweise liegt der Fehler aber auch bei den Ärzten. Michael Huss von der Berliner Charité moniert, die Mode-Diagnose Hyperaktivität werde allzu leichtfertig gestellt. Er lehnt das Verschreiben der poppig-gelben Ritalin-Dragees, die als Nebenwirkung Schlaf und Appetit rauben können, zwar nicht ab, rät aber bei Kindern zu Zurückhaltung – zumal das Medikament süchtig machen kann.

 

Vorerst also bleiben Psycho-Pillen für Kinder ein Bombengeschäft. Novartis beispielsweise hat den Absatz von Ritalin im vergangenen Jahrzehnt weltweit um 700 Prozent gesteigert. Auf den Markt mit den kranken Kindern sind auch andere Firmen scharf – manchmal erfolglos. So musste die Biotech-Firma Cephalon jüngst einen Einbruch ihrer Aktienkurse hinnehmen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ihr Wachhaltemedikament Provigil nicht gegen kindliche Hyperaktivität hilft.

 

Damit die Psyche der Kinder erst gar nicht krank wird, setzen viele auf die Schule. Die Weltgesundheitsorganisation finanziert Unterrichtsprogramme, in denen sich Schulkinder ein stabileres Selbstbewusstsein antrainieren sollen. Jugendforscher Hurrelmann fordert sogar ein eigenes Fach „Gesundheitserziehung“, das Stressmanagement und vernünftiges Essverhalten lehrt. Womöglich ist der Klassenraum jedoch der falsche Ort, um mit Pubertierenden über psychische Probleme zu reden. Diese Erfahrung machte Psychologe Rolf Manz, als er das an Universität Dresden entwickelte Programm „GO! Für Gesundheit und Optimismus“ sächsischen Schülern nahebringen wollte. Sobald Manz die 15- bis 17-Jährigen auf heikle Themen wie Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht ansprach, brach allgemeines Kichern aus. „Niemand redet über sich, wenn er fürchten muss, dass die Probleme in der Pause auf dem Schulhof plattgetreten werden“, bilanziert Manz. Der Dresdner will künftig mit so genannten „at risk“-Gruppen arbeiten – Kindern und Jugendliche, deren Leidensdruck stark genug ist, dass sie Hilfsangeboten offen gegenüberstehen.


KIRSTEN BRODDE greenpeace magazin